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Andrea, MS-Betroffene, 39 Jahre

Erfahrungsberichte

Von der Entdeckung der Langsamkeit

14 Minuten

Veröffentlicht am 07.04.2021  von  Andrea

„Höher, schneller, weiter“ oder auch „Raketenmodus“: das war mein unausgesprochenes Lebensmotto vor meinem heftigen MS-Schub 2014. In meinem Blogbeitrag teile ich mit Dir meine Erfahrung, wie ich mittlerweile den „Chillkrötenmodus“ und damit den Zauber der Langsamkeit mehr und mehr in mein Leben einlade, auch wenn es die Rakete immer mal wieder schafft, die Poleposition einzunehmen. Spoileralarm: Ich befürchte, es ist eine „Never-ending-Story“.

Gefühlt mein ganzes Leben lang – auf jeden Fall seit dem Teenageralter – war ich angetrieben von hohen Erwartungshaltungen an mich und meine Leistung. Übrigens ein Antrieb, der aus mir selbst herauskam, ohne dass es von Außen gefordert war. Kommt Dir das bekannt vor?

Wenn ich genau hinschaue, dann hatte ich diesen Antrieb ehrlich gesagt in jedem Lebensbereich. Ich habe immer Vollgas gegeben. Vor allem aber, wenn es um die Schule, später das Studium und dann die Arbeit ging. Einer meiner ehemaligen Chefs meinte mal zu mir: „Andrea, du hast den Spruch ‚Mach es zu deinem Projekt‘ mit jeder Ader aufgesogen.“

So war es auch: Wenn ich von etwas überzeugt war, habe ich alles gegeben. Und zwar meist eben höher, schneller und weiter als von irgendjemandem gefordert. Wie gesagt in jedem Lebensbereich. Dass dies in einer Überforderung münden musste, war irgendwie vorhersehbar, aber nicht von mir… zumindest nicht zur damaligen Zeit.

MS-Schub als Chance zum Umdenken

Mein heftiger Schub 2014 war es dann, der mich zum ersten Mal zum Umdenken brachte. Er hat mich so richtig ausgebremst und im wahrsten Sinne des Wortes in die Langsamkeit gezwungen. Da sich bei mir Schübe meist in den Beinen zeigen – mit Sensibilitätsstörungen, Gleichgewichtsproblemen und Einschränkungen im Laufen – wurde das „höher, schneller, weiter“ somit zumindest auf der physischen Seite erstmal ausgebremst. Es war Zeit, inne zu halten – im Außen genauso wie im Innen.

Im ersten Moment war das natürlich nicht cool. Also ich meine: so gar nicht cool. Mein Sohn war damals drei und fing gerade an, mit dem Laufrad die Welt zu erkunden. Dass ich durch die Symptome dann immer wieder gezwungen war, mich hinzusetzen und nicht mithalten konnte, war wirklich alles andere als spaßig für mich. Aber diese Vollbremsung war nötig, um meine Blickwinkel zu ändern und neue Denkansätze in mein Leben zu rufen. Diese Denkansätze zeigten sich für mich im ersten Moment durch Yoga und vor allem der Philosophie dahinter. Ganz ehrlich gesagt kann man auch nur wieder schmunzeln, wenn man sich anschaut, wie ich das Thema damals angepackt habe. Denn ich habe nicht einmal pro Woche einen Kurs besucht. Nein, auch das habe ich nach dem mir bekannten Muster „höher, schneller, weiter“ angepackt und mich in eine zweijährige, berufsbegleitende Yogalehrer-Ausbildung gestürzt. Als Sahnehäubchen oben drauf noch mit einer Business-Yogalehrer-Zusatzausbildung.

Mit Yoga zu mehr Langsamkeit

Aber auch wenn ich das Thema vielleicht aus dem alten Muster heraus angepackt habe, hat es mich schönerweise in die absolut richtige Richtung gebracht und dafür bin ich heute unglaublich dankbar. Es hat mir wirklich viele wunderbare neue Denkansätze gezeigt und ich konnte mich vor allem durch die Selbstreflexion mehr und mehr mit dem verbinden, was für mich wichtig war und was meinem eigentlichen Rhythmus entsprochen hat.

Innerhalb der Yogalehrer-Ausbildung habe ich mich neben den klassischen Aspekten wie Asanas (Körperstellungen), Pranayama (Atemübungen) und Entspannungstechniken vor allem durch die Yoga-Philosophie dann auch schon mit Themen wie Achtsamkeit und Entschleunigung beschäftigen dürfen. Vor allem die Meditation – einer der wichtigsten Grundpfeiler im Yoga – ist nach wie vor der Schlüssel für mich, um in die Entschleunigung zu kommen. Dabei geht es nicht darum, sich 30 Minuten regungslos hinzusetzen und krampfhaft zu versuchen, an nichts zu denken. Sondern es geht vielmehr darum, die Tür zum Alltag nach draußen zu schließen, bei mir selbst einzuchecken und zu schauen, was gerade wirklich relevant ist, um genau das in aller Achtsamkeit dann anzugehen.

Eigene Muster erkennen und durchbrechen

Wie Du vielleicht zwischen den Zeilen lesen kannst, habe ich meinen Raketenmodus auch durch die Yogalehrer-Ausbildung nicht vollständig abgelegt. Auch in der Ausbildung selbst habe ich alles sehr zielstrebig verfolgt und umgesetzt. Ein großer Stellenabbau in meinem damaligen Unternehmen war dann der Startpunkt in meine Selbständigkeit. Und – Du ahnst es vielleicht schon – auch diesen Teilabschnitt auf meinem Weg begegnete ich vorerst nicht im Chillkrötenmodus. Im Gegenteil: Es gab so viel Neues, das gelernt und erforscht werden durfte. Meine Ansprüche waren nach wie vor hoch und mein Antrieb fast grenzenlos. Zumal ich nun ja tatsächlich mein ganz eigenes Projekt, meine eigene Vision verfolgte.

Mit dem Start in die Selbständigkeit startete ich noch eine professionelle Coaching-Ausbildung. Ich denke, dass dies in Kombination mit den Erfahrungen der Jahre zuvor der Schlüssel war und nach wie vor ist, die Langsamkeit endlich mehr und mehr in mein Leben einzuladen. Denn im Rahmen einer Coaching-Ausbildung erhält man nicht nur theoretischen Input, sondern beschäftigt sich zwangsweise mit den eigenen Schattenseiten, Mustern und inneren Antreibern. Ich konnte langsam aber sicher verstehen, woher die Muster kamen und durfte sie Schritt für Schritt liebevoll entlarven. Das heißt übrigens nicht, dass sie gar nicht mehr da sind. Aber schönerweise erkenne ich viel früher, wenn sie anklopfen und kann entsprechend einlenken. Und falls ich es mal übersehen sollte, habe ich immer noch meinen Körper, der mir nach wie vor die rote Fahne zeigt und mich mehr oder weniger dezent darauf hinweist, dass das Tempo, das ich auf die Straße lege, eben vielleicht nicht dem entspricht, das gut und stimmig für mich ist.

MS-Betroffene Andrea trinkt aus einer Tasse

Langsamkeit steckt voller Potenzial

Rückblickend glaube ich, dass ich nun für mich wirklich verstanden habe, wie bereichernd es ist, nach meinem eigenen Rhythmus zu leben – und dieser bedeutet für mich persönlich eben, ein paar Gänge runter zu schalten. In dieser Phase ist auch der „Chillkrötenmodus“ als symbolhaftes Bild entstanden. Ich habe mich zum Beispiel an Textpassagen aus Büchern erinnert, die mich berührt haben. Wie zum Beispiel aus dem „Café am Rande der Welt“ von John Strelecky. Dort beschreibt er eindrucksvoll das Geheimnis von Wasserschildkröten. Nämlich, dass diese „mit der Strömung“ schwimmen, anstatt gegen sie anzukämpfen. Sie sind in dem Moment voll im „Flow“. Mehr und mehr habe ich mich mit dem Thema „Langsamkeit“ beschäftigt und Bücher gelesen. Viel wichtiger aber als das Aufsaugen der Theorie war Folgendes: Ich habe bewusst versucht, die Langsamkeit in mein Leben einzuladen, indem ich bewusst Pausen gemacht habe oder Dinge und Projekte viel langsamer angegangen bin, als ich es noch vor einigen Jahren getan hätte. Das Geniale daran ist, dass ich dabei immer wieder die Erfahrung mache, dass in der Langsamkeit so viel Potenzial steckt. Ich habe in den letzten Monaten immer wieder diese Erfahrung gemacht: Wenn ich es mit Langsamkeit und Bedacht angehe, zeigen sich immer noch weitere Wege und Möglichkeiten für mich und mein Tun. Sei es privat oder beruflich.

Ich benutze übrigens auch symbolhafte Anker, um mich immer wieder an die Langsamkeit zu erinnern: Ich umgebe mich gerne mit Bildern von Schildkröten (Wasser oder Land), um mich immer wieder daran zu erinnern, die Rakete gern mal allein eine Runde fliegen zu lassen, während ich mich gechillt im Stuhl zurücklehne. Ich habe zum Beispiel eine Tasse mit einer „Chillkröte“ drauf und Schildkröten auf meiner Handyhülle oder als Schlüsselanhänger. Ganz ehrlich: ich denke auch schon länger darüber nach, mir ein Mini-Tattoo am Handgelenk stechen zu lassen, aber im Moment tut es noch der Platz auf dem Vision-Board.

Abschließend möchte ich Dir noch die wohl für mich wichtigste Erkenntnis zu dem Thema mitgeben: BEIDES ist ein Teil von mir: sowohl die Rakete als auch die Chillkröte und es gehört zu meiner persönlichen Never-ending-Story, das richtige Maß zu finden.

In diesem Sinne wünsche ich Dir von Herzen, dass auch Du den für Dich stimmigen Rhythmus findest – egal ob Chillkröte, Rakete oder ein Wechselspiel aus beidem.

All the best,

Deine Andrea

Übrigens: Wenn Dich das Thema Achtsamkeit anspricht, höre doch einmal in meine Folge von trotz ms DER PODCAST rein!

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