Erfahrungsberichte

Aufklärungsarbeit als Teil von Inklusion bei MS

10 Minuten

Veröffentlicht am 16.11.2022 

Um ehrlich zu sein, hatte ich vor meiner Diagnose der Multiplen Sklerose kaum Berührung mit Inklusion. Das kannte ich nur aus dem Fernsehen: Menschen im Rollstuhl stoßen an Barrieren, wenn beispielsweise Rampen fehlen oder die Türen zu eng sind. Selbst meine eigene Diagnose hat mich zu Anfang nicht die Tiefe begreifen lassen, die Inklusion beinhaltet. Wahrscheinlich kann ich auch heute noch dazulernen. Wie wichtig Inklusion ist, merkte ich erst, ohne genau zu wissen, wie sie sich definiert: Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch ganz natürlich dazugehört. Oder anders: Inklusion ist, wenn alle mitmachen dürfen. Egal wie du aussiehst, welche Sprache du sprichst oder ob du eine Behinderung hast.

Inklusion in Bezug auf Multiple Sklerose

In der Sekunde, als mir im Krankenhaus mitgeteilt wurde, dass ich Multiple Sklerose habe, dachte ich direkt an all die Dinge, die ich nun vermeintlich nicht mehr machen kann. Ein Gedanke war, dass mich mit MS doch kein Arbeitgeber mehr einstellen würde. Meine Krankheit ist ein zu großes Risiko. Auf mich müsste man jederzeit Rücksicht nehmen. Meine Konzentration hält nicht so lange, meine Augen funktionieren manchmal nicht richtig, ich werde mehr Krankentage haben als meine Kolleg*innen. Wieso also mich einstellen? Doch in einer Gesellschaft, in der wir alle gleich sind und auch mit einer Behinderung dieselben Chancen bekommen sollten, dürften solche Gedanken doch gar nicht erst auftauchen? Da war sie also schon – meine Berührung mit Inklusion, ohne wirklich zu wissen, was sie alles beinhaltet.

Die Vielseitigkeit von Inklusion

Wie vielseitig das Thema ist, habe ich erst so richtig durch die Online-Community erfahren. Wie bereits erwähnt, ist das prominenteste Beispiel für fehlende Inklusion das Vorhandensein von Barrieren – durch fehlende Rampen, Treppen oder enge Türen. Ich möchte in diesem Blog gerne Themen ansprechen, die nicht auf den ersten Blick ersichtlich sind. Die oft erwähnten „unsichtbaren Probleme“, die bei der Inklusion auch ihren Platz finden müssen:

  • Die gerümpfte Nase der Sitznachbarn, da ein dezenter Geruch von Urin in der Luft liegt, weil der Blasenkatheter heute leider nicht dicht hält.
  • Die genervten Blicke der Kolleg*innen, weil die Konzentrationsstörungen für viele Fehler in der gemeinsamen Präsentation verantwortlich sind.
  • Wenn der Chef oder die Chefin dich fragt, warum du nicht einfach mal früher ins Bett gehen kannst und nicht verstehen will, dass Fatigue ein sehr belastendes Symptom ist.
  • Andere Autofahrer*innen, die dich anschreien, weil du ohne Rollstuhl und Krücken auf einem Parkplatz für Menschen mit Behinderung stehst.

Diese Liste ist noch so viel länger. Wo auch immer du diesen Blogbeitrag liest oder darauf verwiesen wurdest, kannst du diese Liste in der Kommentarfunktion gerne ergänzen.

Tabuthemen bei MS sind kein Tabu mehr

Und ich muss sagen, dass ich es gut finde, dass sich ein großer Teil von uns nicht mehr schämen muss, diese Themen anzusprechen. Vermehrt sprechen wir im Internet über Störungen der Sexualität bei MS, über austretenden Stuhl bei einem künstlichen Darmausgang und über die psychischen Belastungen, denen wir mit all unseren Symptomen ausgesetzt sind. Und genau das ist auch die Vision, die ich mir für Menschen wie uns in der Zukunft wünsche: offen über unsere Gefühle, Ängste, Sorgen, aber auch Glücksmomente und Höhepunkte reden zu können. Dass wir uns dafür nicht mehr in anonymen Gruppen treffen müssen, die Möglichkeit haben, in Livestreams hunderte oder tausende Gleichgesinnte zu erreichen, die wir in unserer Selbsthilfegruppe in unserer Stadt nie kennenlernen würden. Ganz abgesehen von den Menschen, die gar nicht in Städten leben und wo es meist nicht nur keine Selbsthilfegruppe gibt, sondern oftmals noch weniger Chancen auf Inklusion oder Austausch mit Gleichgesinnten.

Kevin hält sich ein Auge zu

MS-Betroffener Kevin sucht einen Job bei Google

Kevin blickt in die Zukunft

Meine Vision

Lasst uns vor allem auch über die „unsichtbare Inklusion“ mehr reden! Ich möchte keine „witzigen Sprüche“ mehr von meinem Onkel am Esstisch hören, wie denn meine Sitzung beim „Seelenklempner“ war und dass man sowas früher ja auch nicht gebraucht hat.

Es gibt Menschen unter uns, die leiden, doch sie sehen für Dich kerngesund aus.

Lasst uns in Zukunft, wenn jemand am helllichten Tage schwankend durch die Stadt läuft, nicht denken, dass die Person ein Alkoholproblem hat, sondern dass sie vielleicht durch eine Beeinträchtigung eine Gangstörung hat. Wenn einer Person ständig die richtigen Worte fehlen, wir nicht denken, dass die Person nicht sonderlich intelligent sei, sondern eventuell Wortfindungsstörungen hat.

Ich denke, dass genau das, was wir Betroffenen vermehrt im Internet lostreten, der wichtige Schritt hin zu mehr Akzeptanz in der Gesellschaft ist. Wir reden offen darüber. Wir verstecken uns nicht mehr aus Angst vor Konsequenzen. Wir fordern ein, dass die Dinge, die meist aus Scham verschwiegen wurden, nun als normal angesehen werden. Das passiert auf so viele Arten und generationenübergreifend. Das finde ich wunderbar und deswegen ist mir auch so wichtig, dass wir gemeinsam Inklusion fördern. Jede und jeder auf seine Art und Weise. Ob in aufklärerischen Postings, faktenbasierten Blogbeiträgen, humoristischen Videos, interaktiven Livestreams oder persönlich vor Ort.

Und wenn es Themen gibt, die dir wichtig sind, du dich aber nicht bereit fühlst, darüber öffentlich zu sprechen, dann findest du unglaublich großartige Menschen hier in der trotz ms-Community, die dein Thema gerne für dich ansprechen und du anonym bleiben kannst. Denn auch das ist Teil unseres Zusammenhalts auf unserem gemeinsamen Weg zu einer besser funktionierenden Inklusion!

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