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Veröffentlicht am 04.01.2018 von Simone
Bei mir kam die MS ganz schleichend. Es dauerte vier bis fünf Jahre, bis sie als Primär Progrediente MS diagnostiziert wurde. Da war nie ein einschneidender, wahrnehmbarer Schub. Der Prozess, dass ich immer schlechter laufen konnte und kann, schritt fast nicht sichtbar fort. Deswegen gab es auch keinen großen Einschnitt in unsere Familie vom einen auf den anderen Tag. Doch würde man Momentaufnahmen vom Anfang bis heute betrachten, dann könnte man die Veränderungen im Familienleben ganz deutlich erkennen.
Unser Sohn und ich haben uns in zwei verschiedene Richtungen entwickelt. Während er – Gott sei Dank – immer selbständiger wird, bin ich hilfsbedürftiger geworden.
Früher haben wir beispielsweise seinetwegen einen Bungalow im Urlaub gemietet, damit wir mehr Platz hatten und keine Rücksicht auf Hotelnachbarn nehmen mussten. Jetzt sind wir meinetwegen im Bungalow, damit alles ebenerdig ist und ich auch nicht an irgendwelchen Buffets verzweifeln und mich von meiner Familie bedienen lassen muss.
Unser Radius für Unternehmungen hat sich über die Jahre stark verkleinert. Wir versuchen aber immer noch Ausflüge zu machen, die sich an die Situation anpassen lassen. So spielen mein Mann und unser Sohn zum Beispiel Minigolf und ich schaue zu und laufe mit, wenn es das Gelände zulässt. Oder wir fahren im Urlaub gemeinsam mit einer Seilbahn auf einen Berg. Während ich mich dort hinsetze, unternehmen die beiden etwas.
Deutlich wird aber auf jeden Fall: Der Urlaub ist sehr an meinen Zustand angepasst. Wir nehmen es so, wie es gekommen ist.
Im Alltag erledigt inzwischen mein Mann alles außerhalb des Hauses. Das heißt, er kauft alle Lebensmittel ein, fährt unseren Sohn zu Terminen, die nicht mit dem Bus zu erreichen sind, und mich zu Arztterminen. Er ist zeitlich total verplant und damit der Hauptleidtragende meiner Erkrankung.
Ich versuche, noch weitestgehend die täglichen Hausarbeiten zu erledigen. Doch das geht nur langsam. Dadurch, dass ja alles so schleichend vonstatten gegangen ist, haben wir uns immer wieder arrangiert.
Würde man auch hier eine Momentaufnahme von den Anfängen meiner Erkrankung – das war etwa 2010 – und von heute vergleichen, dann würde deutlich, wie stark sich die Zuständigkeiten im Alltag verschoben haben.
Wie sehr meine Erkrankung im Bewusstsein unseres Sohnes gegenwärtig ist, zeigt eine Episode aus den vergangenen Wochen. Wir schauten uns Urlaubsfotos an, auf denen er drei oder vier Jahre alt war. Er war ganz erstaunt, dass ich auf den Fotos ohne Stöcke zu sehen war und auch offensichtlich selbständig laufen konnte.
Obwohl er sich erinnerte, dass ich ihn immer zu Fuß zum Kindergarten gebracht und abgeholt habe sowie ihn abends huckepack die Treppe hochgetragen habe, war ihm mein eigenständiges Gehen und Stehen auf den Fotos fremd.
Das alles klingt so, als bestünde unser Leben nur noch aus Einschränkungen. Doch so ist es nicht. Wir lachen viel miteinander. Da wir alle versuchen, ein normales Leben zu führen und die MS nicht ständig zu thematisieren, nimmt auch unser Sohn keinen emotionalen Schaden.
Ich glaube nicht, dass uns die Krankheit fester zusammengeschweißt hat. Wir waren auch schon vorher sehr aufeinander bezogen.
Ich kann die PPMS, wenn ich nicht gerade laufe, sogar ganz ausblenden. Deshalb wünsche ich jedem, der krank ist, dass er Halt in seiner Familie findet.
Ich kann aus tiefstem Herzen sagen, dass der Zusammenhalt in unserer Familie die Krankheit für mich erträglich macht.
Und noch etwas schweißt uns zusammen: diese manchmal unausgesprochene, vage Hoffnung, dass vielleicht auch alles wieder besser werden könnte. Sei es durch die Medizin oder einen sonstigen nicht erkennbaren Grund. Womit wir wieder bei den Träumen sind.
Inhaltlich geprüft: M-DE-00003220
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