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Veröffentlicht am 11.12.2018 von Simone
Meine MS-Form ist die primär-progrediente (PPMS) und tatsächlich verhält sie sich auch so: von Anfang an schleichend. Es gab keinen schockierenden, wachrüttelnden Einschnitt wie bei einem Schub, sondern dieses langsame Voranschreiten schlechteren Laufens. Im Rahmen eines Workshops wurden mein Mann und ich einmal gefragt, wann und wie wir jeder für sich meine Erkrankung erstmals wahrgenommen haben. Tatsächlich war das zu sehr verschiedenen Zeitpunkten. Meine Wahrnehmung begann bei einem viel früheren Ereignis als seine: Es lagen bestimmt eineinhalb Jahre dazwischen.
Alles begann für mich, als ich unserem Sohn nicht mehr hinterherrennen konnte. Irgendwann fing ich an bei längeren Strecken zu stolpern. Dem Stolpern folgte immer öfter ein Hinfallen. Bis zu diesem Zeitpunkt dachte mein Mann, die Vorfälle seien mit Unachtsamkeit zu entschuldigen. Für ihn war erst klar, dass bei mir etwas nicht stimmte, als ich zu Hause auf glattem Boden stolperte und hinfiel. Das war für ihn mit Unachtsamkeit nicht mehr zu erklären und auch er erkannte, dass etwas Ernsteres die Ursache sein musste.
In letzter Zeit habe ich mich deshalb schon oft gefragt: Wenn mein Mann und ich schon den Beginn meiner Erkrankung so verschieden wahrgenommen haben, wie nimmt dann unser Sohn sie wahr?
Auslöser war die Aussage meines Sohnes, dass er sich gar nicht mehr vorstellen könne, dass ich früher ohne Stöcke laufen konnte. Für ihn ist der Zustand sozusagen „normal“. Er bedauert, dass wir zwei nichts gemeinsam außer Haus machen können und dass ich ihn nicht spontan irgendwo hinbringen oder abholen kann. Damit hat er sich arrangiert.
Aber als mein Mann und ich uns einmal unterhielten, dass ich irgendwann einmal im Rollstuhl sitzen könnte oder dass ja vielleicht auch vom Auto entferntere Orte wie historische Innenstädte mit einem Rollstuhl leichter zu erreichen seien, schaltete er sich ein und verkündete ganz aufgebracht, dass er diese Vorstellung ganz furchtbar fände und das nicht wolle. Das war bisher so ziemlich seine einzige Reaktion auf meine Erkrankung.
Auf Nachfragen, wie er meine Krankheit wahrnimmt, kommt bei ihm mit zwölf Jahren keine allumfassende Supervision, sondern Antworten wie: „Ich kann ja leider keinen Hund haben, weil Du während meiner Schulstunden nicht auf ihn aufpassen kannst.“ Aus solchen Reaktionen kann ich mir nur ein Bild seiner Sicht zusammenpuzzeln.
Ich denke, für ihn sind viele Abläufe in unserem Alltag einfach gegeben, weil er sie nur noch so kennt. Für mich ist wichtig, dass ich nicht Dinge problematisiere, die für ihn normal sind. So kam von ihm zum Beispiel noch nie der Vorwurf, dass andere Kinder eine gesunde Familie hätten und dadurch vielleicht vieles einfacher sei. Ein Vorwurf, den ich immer wieder einmal erwartet hätte.
Für meinen Sohn gibt es Grenzen, meine Erkrankung tolerabel zu finden.
Aber – wie die Episode mit dem Gespräch über einen Rollstuhl zeigt – es gibt für ihn Grenzen, meine Erkrankung tolerabel zu finden.
Ich denke, er lebt sehr im Hier und Jetzt und setzt sich nicht damit auseinander, was in Zukunft sein könnte.
Für mich ist das eine gesunde Einstellung im Umgang mit einer chronischen Erkrankung. Dass man seine Energie nicht darauf verwendet, was kommen kann, sondern die Situation annimmt, wie sie jetzt ist.
Inhaltlich geprüft: M-DE-00003220
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