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Hilfsmittel & Digitales

Nachgefragt: MS und barrierefreies Wohnen – ein Experte im Interview

10 Minuten

Veröffentlicht am 15.09.2017  von  trotz ms Redaktion

Je nach Krankheitsverlauf kann barrierefreies Wohnen die Selbstständigkeit von MS-Betroffenen entscheidend beeinflussen. Diese Situation kennt auch die Architektin Kornelia Grundmann gut, da sie selbst an MS erkrankt ist und einen Rollstuhl nutzt. Im Folgenden beantwortet die allgemein beeidete Sachverständige für barrierefreies Bauen die wichtigsten Fragen zu dem Thema.

Kornelia Grundmann studierte Architektur und erkrankte 2001 an MS. Als Rollstuhlnutzerin und allgemein beeidete Sachverständige für barrierefreies Bauen berät sie mit gabana, der Agentur für Barrierefreiheit, Hotellerie, Tourismusverbände und die Baubranche sowie Privatpersonen rund um das Thema.

Sie ist Herausgeberin des Magazins „Natürlich barrierefrei Zuhause und auf Reisen“ und Buchautorin von „Lust auf Barrierefreiheit“. Dieses vertreibt sie im Eigenverlag. Außerdem hat sie die Online -Plattform Barrierefrei ins Leben gerufen.

Weitere Informationen unter: www.gabana.net

Was bedeutet Barrierefreiheit?

Einfach ausgedrückt: Barrierefreiheit ist das Gegenteil von Hindernissen und Barrieren. Ob Dienstleistungen, Informationstechniken, Produkte und Gebäude – alle Menschen sollten Zugang dazu haben. Jeder, ob mit oder ohne Handicap, sollte diese ohne fremde Hilfe und in der allgemein üblichen Weise nutzen können. Das mag sich kompliziert anhören, ist es aber nicht.

Im öffentlichen Bereich bedeutet architektonische oder bauliche Barrierefreiheit: keine Schwellen oder Stufen und entsprechende Bewegungsfreiheit durch breitere Türen. So sollten diese beispielsweise Familien mit Zwillingskinderwagen, Personen mit Gehstock und Rollatoren sowie Rollstuhlnutzer bequem passieren können. Und das zentrale Thema überhaupt sind natürlich die fehlenden barrierefreien Toiletten.

Für seheingeschränkte Menschen ist die taktile sowie kontrastreiche Gestaltung ebenso essentiell, wie modernste Audio-Informationen. Menschen mit Hörschädigungen fühlen sich in störschallfreien Räumen mit induktiver Höranlage wohl. Lesbare Informationen vermitteln ihnen Sicherheit und erlauben die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

Schöner Wohnen trotz MS: Welche Tipps haben Sie, um das eigene Zuhause barrierefrei zu gestalten – ohne dass Hilfsmittel das Wohnambiente stören?

Einmal ganz generell gesagt: Befreien Sie sich bitte von dem Vorurteil, dass barrierefreie Gestaltung hässlich sein muss! Style und Funktion können sehr wohl harmonisch im Einklang stehen. Barrierefreiheit ist bei Weitem nicht nur für Menschen mit Behinderung, sondern zählt längst zum Stand der Technik. Sie bedeutet Komfort und Lebensqualität für alle. Einzelne Tipps hier aufzuführen, würde den Rahmen sprengen. Ich habe darüber ein ganzes Buch geschrieben – mit dem Titel „Lust auf Barrierefreiheit“.

Welche Aspekte sind bei der Neuplanung eines barrierefreien Heims zu beachten?

Das Wichtigste ist, dass Sie vorausschauend denken und planen! Bei der Neuplanung, aber auch bei der Umgestaltung Ihres Heims ist der Bewegungsfreiraum entscheidend. Für den Fall, dass Sie einen Rollstuhl nutzen, müssen Sie weiterhin selbständig dorthin gelangen, wo Sie hin möchten. Das beginnt schon bei der Lage der Immobilie und gilt besonders in Ihren vier Wänden. Stellen Sie sich am Anfang folgende Fragen:

  • Wie barrierefrei ist Ihr Umfeld?
  • Können Sie Ihren täglichen Bedarf decken?
  • Können Sie weiterhin am gesellschaftlichen Leben teilnehmen?
  • Erkundigen Sie sich rechtzeitig, ob Ihre Planer oder Ihre Handwerker sich mit dem Thema „Barrierefreiheit“ wirklich auskennen. Ob diese Erfahrungen haben, was an MS erkrankte Menschen benötigen. Denn meist berufen sie sich lediglich auf Gesetze und Normen, die teilweise längst nicht mehr dem Stand der Technik entsprechen.

Am deutlichsten wird dies bei Türschwellen. Hier werden zwei oder drei Zentimeter gerne vermeintlich als „barrierefrei“ bezeichnet. Dabei sind es gerade diese scheinbar kleinen Schwellen, die für Menschen mit MS tagtäglich zu Stolperfallen oder zu unüberwindbaren Hindernissen werden. Als Rollstuhlnutzerin musste ich mich selbst lange damit herumplagen. Als wir vor einigen Jahren alles barrierefrei umbauten, wollten uns emsige Fensterfachberater weismachen, dass diese Schwellen unumgänglich seien. Glücklicherweise fand ich eine wirklich barrierefreie und schwellenlose Lösung. Das ist echte Lebensqualität für mich, denn sie ermöglicht mir, ohne fremde Hilfe auf unsere Terrasse zu kommen. Und zwar, wann immer ich möchte.

Welche größeren Veränderungen würden Sie Betroffenen in ihrem Wohnraum ans Herz legen?

Im bestehenden Eigenheim hängen diese von den örtlichen Gegebenheiten, den damit verbundenen Möglichkeiten und natürlich auch vom eigenen Geldbeutel ab. Allerdings sind es nicht immer nur die großen Veränderungen. In Wirklichkeit sind es die kleinen, aber feinen und nützlichen Details, die uns das Leben erleichtern. Es muss auch nicht immer aufwendig und teuer sein. Die Hauptsache ist, dass Sie rechtzeitig daran denken. Denn Nachrüsten kommt immer teurer, als von Anfang an klug miteingeplant.

In erster Linie geht es um ausreichend Bewegungsfläche und entsprechende Türbreiten. Für den Fall, dass irgendwann einmal ein Rollstuhl zum Thema wird und Sie über zwei Etagen wohnen, sollte ein geeigneter Stromanschluss im Treppenhaus für den späteren Einbau eines Treppenliftes vorgesehen sein. Bei Neubauten empfiehlt es sich, eine passende Stelle im oder am Haus vorzusehen. So kann bei Bedarf ein Aufzug eingebaut werden.

Im Schlafzimmer sind Schränke mit Schiebetüren und Auszügen ideal, da Drehtüren immer im Weg stehen. Achten Sie auf genügend Haltemöglichkeiten, die Ihnen vor allem beim Umsetzen vom Rollstuhl ins Bett Sicherheit geben. Im Bad ist sehr wichtig, dass die Türe nach außen öffnet. Ideal sind leichtgängige Schiebetüren. Die Dusche muss bodengleich und rutschfest sein und über Haltegriffe verfügen. Außerdem muss die Armatur im Sitzen gut erreichbar sein. Eine Badewanne würde ich MS-Patienten nicht empfehlen.

Achten Sie beim WC auf eine Mindesthöhe von 46 bis 48 Zentimeter, damit Sie leichter aufstehen können. Außerdem benötigen Sie auf beiden Seiten Haltegriffe, die Sie bereits präventiv einplanen. Der Waschtisch sollte auf alle Fälle mit dem Rollstuhl unterfahrbar sein. Dies sind nur einige wenige Tipps. Wie gesagt: Besonders bei MS kommt es vornehmlich auf die individuellen Bedürfnisse an, da die Krankheit sehr unterschiedlich verlaufen kann.

Wo finden Betroffene qualifizierte Beratung zu dem Thema „Barrierefreiheit“?

Es gibt unterschiedliche Beratungsstellen für barrierefreies Bauen. Am besten erkundigen Sie sich in Ihrem Bundesland bei der Architektenkammer oder der DMSG (Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft). Ganz wichtig ist außerdem: Vergewissern Sie sich, dass Ihr Berater nicht nur über architektonisches oder bauliches Fachwissen verfügt. Er oder sie sollte die Symptomatik und die damit verbundenen möglichen Veränderung des Krankheitsbildes, die im Laufe von Jahren entstehen können, kennen. Bedenken Sie darüber hinaus: Was heute für Sie noch nicht notwendig erscheint, kann schon morgen unverzichtbar werden. Am besten Sie wenden sich an einen Sachverständigen für barrierefreies Bauen mit MS-Erfahrung.

Inhaltlich geprüft: M-DE-00003220

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