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Bewegung & Kognition

Nachgefragt: Bewegungstherapie bei MS – Ein Experte im Interview

8 Minuten

Veröffentlicht am 17.03.2020  von  trotz ms Redaktion

Als Sport- und Neurowissenschaftler ist Prof. Dr. Dr. Philipp Zimmer Experte für die Auswirkungen von körperlicher Aktivität auf das Immunsystem. Im Folgenden beantwortet er fünf Fragen zur Bewegungstherapie bei MS.

Prof. Dr. Dr. Philipp Zimmer leitet die Abteilung für „Leistung und Gesundheit (Sportmedizin)“ im Institut für Sport und Sportwissenschaft an der Technischen Universität Dortmund. Er erforscht den Einfluss von Bewegungstherapie auf das Immunsystem von MS-Betroffenen. Dabei geht er der Frage nach, was eigentlich genau bei Sport im Körper passiert und wie sich dadurch MS-Symptome verbessern.

Lieber Herr Dr. Dr. Zimmer, inwieweit kann Bewegung – besonders für Menschen mit MS – von therapeutischem Nutzen sein?

Der wissenschaftliche Beweis für den therapeutischen Nutzen von Bewegung ist mittlerweile enorm. Bewegungstherapeutische Maßnahmen können eine ganze Reihe von Symptomen bei MS-Betroffenen verringern. Das fängt an bei der körperlichen Leistungsfähigkeit, also Kraft, Ausdauer und Koordination. Die kann typischerweise bei MS-Patienten irgendwann eingeschränkt sein. Aber auch Symptome, die nicht direkt mit der körperlichen Fitness zu tun haben, können sich durch Sport nachweislich bessern. Das gilt nicht nur für Fatigue und kognitive Einschränkungen, sondern auch für Depressionen. Die Frage „Sport als Medikament?“ würde ich klar mit Ja beantworten. Natürlich kann und soll Sport keine medikamentöse Therapie ersetzen. Doch die Bewegungstherapie ist sicherlich derzeit die beste unterstützende Maßnahme. Das gilt für MS, aber auch für andere Erkrankungen.

Welche Formen der Bewegungstherapie gibt es und wer bietet diese an?

Es gibt ein großes Spektrum von bewegungstherapeutischen Ansätzen. Es fängt an bei der Alltagsaktivität, also dass Menschen im Alltag aktiver werden. Das würde ich immer jedem anraten. Vor allem weil wir wissen, dass Menschen mit MS ihr Aktivitätsniveau meist reduzieren. Darüber hinaus wissen wir aber auch, dass „richtiger“ Sport mehr bringt als ein bisschen Bewegung – besonders wenn dieser von Experten betreut stattfindet.

Das Einfachste ist der Gang ins Fitnessstudio. Es gibt auch spezielle Sportgruppenangebote oder Reha-Sport, den der Arzt verschreibt und den dann die Krankenkasse mitfinanziert. Es ist sicherlich eine gute Sache, mit anderen Betroffenen zu trainieren – das fördert die Integration und tut der Psyche gut. Andererseits bin ich der Auffassung, dass die Weise, wie dort Sport betrieben wird, nicht unbedingt das ist, wovon MS-Betroffene am besten profitieren. Wenn ich Sport als Medikament verstehe, braucht es eine gewisse Intensität und eine spezielle Art der Bewegung. Bei bestimmten Symptomen können gezielte Übungen viel mehr erreichen als eine Gymnastik in der Sportgruppe. Wenn ein Patient seine Symptome beispielsweise durch eine gesteigerte Kraft bessern kann, sollte er auch gezielt ein intensives Krafttraining durchführen. Das belegen auch Studien. Das Fitnessstudio bietet die Möglichkeit, angepasst an die individuelle Situation zu trainieren.

Bei welchen Symptomen kann eine Bewegungstherapie gezielt zum Einsatz kommen? Kann sie auch bei unsichtbaren MS-Symptomen wie Konzentrationsproblemen oder Fatigue unterstützen und wenn ja, wieso?

Grundsätzlich kann eine Bewegungstherapie die körperlichen Symptome der MS verbessern. Wenn ein Patient merkt, dass seine Kraft nachlässt, kann Krafttraining helfen. Besteht ein Verlust der Ausdauer, kann der Patient mit Ausdauertraining gegensteuern. Wenn ich Biomaterial – also beispielsweise Muskeln – belaste, passt es sich an. Das heißt: Trainiert ein Mensch, wird er fitter. Und das gilt natürlich auch für MS-Betroffene.

Auch bei kognitiven Einschränkungen und Fatigue sowie bei Depressionen kann Sport helfen. Aus physiologischer Sicht ist hier Ausdauertraining am besten geeignet. Dabei werden Botenstoffe freigesetzt, die anti-entzündlich wirken. Diese Erkenntnisse stammen jedoch hauptsächlich aus Studien an Tiermodellen. Meines Wissens gibt es nur eine aktuelle Studie, die den Einfluss von Sport auf die MRT-Ergebnisse von MS-Patienten untersucht hat. Diese zeigt, dass intensives Krafttraining tatsächlich die Stärke von Läsionen und vor allem den Verlust von Hirnvolumen verringern konnte.

Um von den positiven Effekten von beiden Trainingsformen zu profitieren, würde ich immer eine Kombination empfehlen: mindestens zweimal pro Woche ein intensives Krafttraining mit Gewichten und zwei bis dreimal pro Woche ein Ausdauertraining.

Welche Möglichkeiten eröffnet die Bewegungstherapie, wenn Patienten bereits körperlich eingeschränkt sind?

Je stärker ein MS-Patient bereits eingeschränkt ist, desto mehr profitiert er von Bewegung. Je nach Grad der Einschränkung, sind die Möglichkeiten natürlich begrenzt. Aber ein Betroffener im Rollstuhl kann beispielsweise am Handkurbelergometer sehr gut seine Ausdauer trainieren. Leider wird dieses Potenzial häufig nicht ausgeschöpft. Für Betroffene mit sehr starken Einschränkungen gibt es ein Roboter-assistiertes Training auf dem Laufband. Die Gehstrecke als Maß für die Gehfähigkeit von MS-Betroffenen kann dadurch tatsächlich verbessert werden. Das geht aber eher in Richtung Physiotherapie als Bewegungstherapie.

Was können Patienten selbst tun, um das Potenzial der Bewegungstherapie für sich zu auszuschöpfen?

Das Wichtigste: Selbst aktiv werden! Finde eine Bewegungsform, die Dir Spaß macht. Natürlich kann ich predigen, dass intensives Kraft- und Ausdauertraining die beste Wirkung zeigen. Wenn ein Patient jedoch beispielsweise gerne Tennis spielt, Mountainbike fährt oder tanzt, ist das erstmal gut. Wenn er dadurch seine Aktivität steigert, kann er dann versuchen, Kraft- und Ausdauerübungen zu integrieren. Mit Blick auf die Symptome können Betroffene sich bewusst machen, was sie nachweislich durch Sport erreichen können und sich so motivieren.

Inhaltlich geprüft: M-DE-00003220

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