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Jennie, MS-Betroffene, 44 Jahre

Erfahrungsberichte

Krankhaft kreativ trotz MS

8 Minuten

Veröffentlicht am 24.03.2021  von  Jennie

Ich bin süchtig nach Kreativität! Süchtig danach, etwas mit meinem Kopf und meinen Händen zu erschaffen. Eigene Dinge zu gestalten oder alltägliche Gebrauchsgegenstände zu verschönern und ihnen meinen künstlerischen Stempel aufzudrücken. Ich mache die Sachen zu etwas Ungewöhnlichem, etwas Besonderem, zu individuellen Hinguckern und Unikaten.

Ein Tag ohne jegliches kreative Schaffen ist für mich irgendwie ein verlorener Tag. Dabei muss es nicht immer die „große Kunst“ sein. Ich muss nicht täglich ein Fresko malen oder ein Gemälde auf Leinwand pinseln – auch beim Gärtnern, Schreiben, Basteln, Fotografieren oder Kochen kann ich meine Kreativität einfließen lassen. Alltagsgegenstände und Klamotten werden ebenso kreativ überarbeitet wie meine Fahrzeuge.

Collage von Jennies Werken

Früh übt sich

Sobald ich als Kind einen Stift festhalten konnte, habe ich angefangen, zu malen. Zunächst habe ich nur die teuren Zeichenstifte meines Architektenvaters ruiniert und auf Baupläne und Wände gekritzelt. Aber schon bald wurde ich besser und habe dabei einige Malwettbewerbe, nutzlose Preise und Medaillen gewonnen.

Ich habe schon immer viel gemalt und gebastelt, aber als Teenager gab es eine Phase mit geringerer Produktivität. In der Schulzeit habe ich im Unterricht eher Schulhefte und -bücher verziert und fast nur im Rahmen des Kunstunterrichts richtig gezeichnet und gemalt. Aber anscheinend war ich damals schon so gut, dass es mehrfach vorkam, dass die Lehrer mir nicht geglaubt haben, dass ich das wirklich selbst gemalt habe – und mir deshalb schlechte Noten gegeben haben.

Collage von Jennies Werken

Berufung zum Beruf gemacht

Nach der Schule kam für mich nur ein gestalterisches, künstlerisches Studium in Frage, um den Weg zu einem kreativen Beruf einschlagen zu können. Ich habe Grafik-Design in Darmstadt studiert und mich, gleich im Anschluss, selbstständig gemacht. Ein „normaler nine-to-five-Job“ kam für mich nie infrage. Seit 2004 arbeite ich als Grafik-Designerin, Künstlerin, Illustratorin, Fotografin, Airbrusherin und Malerin. Unter meinem Künstlernamen „Die Gräphin“ fertige ich Auftragsarbeiten jeder Art – für Privatpersonen, Firmen, Verlage und große Konzerne. Ich habe diese Entscheidung nie bereut und liebe meine Arbeit – mein Beruf ist meine Berufung!

Nur während der Zeit direkt nach meiner Diagnose kamen mir kurzzeitig Zweifel, ob die Selbstständigkeit eine gute Entscheidung war. Denn plötzlich: Fast blind, arbeitsunfähig und ohne finanzielle Absicherung für Verdienstausfälle – da steht man in einer solchen Situation dumm da. Aber auch durch diese Zeit hat mir die Kreativität sehr geholfen. Sobald die Sehfähigkeit anfing, sich auch nur ein kleinwenig zu bessern, war ich wieder kreativ. Ich habe gemalt und gezeichnet – wohl, um mir selbst zu beweisen, dass ich, wenn auch eingeschränkt, noch in der Lage war, etwas mit meinen Händen zu erschaffen.

Noch im Krankenhausbett habe ich, während ich nur schemenhaft sehen konnte, eine Handpuppe genäht. Sobald sich meine Sehfähigkeit wieder etwas besserte, habe ich alles über MS gelesen, das mir in die Finger kam. Dabei musste ich feststellen, dass die allermeisten Texte absolut dröge waren: niemand, der nicht direkt betroffen ist, will das lesen, um sich über die Krankheit zu informieren! Aus diesen Erfahrungen und mit den ersten, fertigen Cartoonbildern, die ich über meinen schweren Schub und die Erlebnisse in der Diagnosezeit gezeichnet habe, ist die Idee geboren, nicht nur mein direktes Umfeld, sondern auch unbekannte Dritte in Comicform in meinem Buch „Leben mit MS“ über die Krankheit aufzuklären. Denn ein Bild sagt mehr als 1.000 Worte und mittels Cartoons kann man ein schweres Thema leichter verpacken.

Ich bin übrigens ein kreativer „Analog-Manuell-Dinosaurier“. Ich liebe es, mit meinen Händen zu arbeiten und kann mit der digitalen, automatisierten Welt und anonymer Massenware nichts anfangen. Unsere Wegwerfgesellschaft finde ich ganz furchtbar! Ich versuche, so wenig Ressourcen wie möglich zu verbrauchen. Ich kaufe, repariere und benutze lieber altes Qualitätszeug, statt neue, kurzlebige Produkte aus Plastik zu kaufen. Bei meinen Steampunk-Kunstwerken verwandele ich mit Phantasie und Können alten „Qualitätsschrott“ in faszinierende, wieder voll funktionsfähige nützliche und schöne Dinge. Diese „Basteleien“ sehen nicht nur gut aus und machen Spaß – sie trainieren und erhalten gleichzeitig die Geschicklichkeit der Hände.

Mein Tipp für alle, deren Fingerfertigkeit durch die MS eingeschränkt oder bedroht ist: bastelt, malt, zeichnet, schnitzt, schreibt, modelliert, schraubt, knetet – so trainiert Ihr spielerisch und erschafft gleichzeitig schöne Dinge. Oder spielt ein Instrument. Das macht Spaß und vielleicht entdeckt Ihr dabei ein ungeahntes Talent, ein neues Hobby und eine erfüllende Tätigkeit.

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