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Jennie, MS-Betroffene, 43 Jahre

Erfahrungsberichte

Kognition und MS: Voll auf dem Schlauch!

8 Minuten

Veröffentlicht am 14.05.2020  von  Jennie

Ihr kennt das sicher: MS bedingt gibt es die sogenannten „guten und die schlechten Tage“. An guten Tagen macht sich die Krankheit weniger bemerkbar: Alles läuft gut – und man selbst läuft auch gut. Ich laufe dann mit weniger Gang- und Koordinationsstörungen. An schlechten Tagen hingegen läuft gar nichts rund. Man eiert herum, kommt schlecht zurecht, alte Symptome und Probleme treten plötzlich wieder auf und man ist insgesamt schlecht drauf. Und dann gibt es die Tage, an denen es körperlich gut geht, so gut wie eben möglich, aber geistig hängt es. Ich stehe dann irgendwie neben mir, bekomme nichts richtig auf die Reihe; bin vergesslicher, verspulter, verpeilter, verwirrter – irgendwie hängt´s und ich stehe komplett auf der Leitung bzw. „auf dem Schlauch“. In diesem Beitrag teile ich mit Euch meine Erfahrungen in puncto Kognitionsstörungen, die man einem einfach nicht ansieht.

Gedächtnislücken durch MS: Was war noch gleich?

An diesen Tagen ist meine Konzentration und Merkfähigkeit noch schwächer als sonst. Die Gedächtnislücken häufen sich: Ich stehe dann oft im Zimmer und weiß nicht mehr, was ich dort machen, holen oder suchen wollte.

An diesen Tagen kommen dann auch eher die Zweifel und Ängste: „Wirkt das Medikament? Wie soll das alles weitergehen? Wie lange kann ich noch arbeiten, selbstständig sein und mein Leben so weiterleben wie bisher und meinen Hobbys und Leidenschaften nachgehen? Wie wird das weitergehen? Kündigt sich hier vielleicht gerade ein neuer, schwerer Schub an?!“

An diesen Tagen ist geistig alles in Schieflage: Ich rede Blödsinn, verwechsle Worte, vergesse wichtige Sachen, verliere dauernd den Faden und ringe nach Worten. Das Schreiben von Texten (wie bei diesem hier) hängt! Es klappt nicht mit den Formulierungen, die Worte sind weg, Buchstaben fehlen und der Sinn auch. Rechtschreibung und Grammatik scheinen auf Grundschulniveau zurückgesetzt worden und ich komme überhaupt nicht voran.

An solchen Tagen bzw. später durfte ich schon feststellen, dass ich die Nudelpackung in den Kühlschrank gelegt und die Butter in den Nudelschrank gepackt hatte. Ich suche den ganzen Tag nach Worten und nach Dingen!

Dingsbums – Wortfindungsstörungen durch die MS

Richtig blöd und unangenehm wird es, wenn mir Namen entfallen. Dem Dings: dem Apfel oder dem anderen Dingsda, dem Tisch oder dem Dingsbums, dem Vogel ist es egal, wie ich ihn nenne, aber bei Freunden, Bekannten, Verwandten und Kunden ist das richtig unangenehm! Plötzlich ist der Name weg. Eben hatte ich ihn noch und sogar ausgesprochen und plötzlich: weg! Es ist, als ob eine Wand in meinem Kopf hochgefahren wird. Mir fällt nicht mal mehr der Anfangsbuchstabe ein; ich habe plötzlich nicht mehr den Hauch einer Ahnung. 100 Namen rattern mir durch den Kopf und keiner passt auch nur im Geringsten! Jetzt heißt es, Ruhe bewahren, die Lücke überspielen, denn früher oder später fährt die Wand, vor der ich stehe, plötzlich wieder herunter und der Name ist wieder da!

Klar, diese Erfahrung kennen auch andere Menschen, ohne MS oder anderen Einschränkungen – aber jeder MSler, mit dem ich darüber gesprochen habe, bestätigte mir: Unsere Lücken sind irgendwie intensiver und tiefer. Der Schlauch, auf dem wir stehen, ist sozusagen dicker und länger. Diese Eindrücke sind natürlich sehr subjektiv und nicht wirklich messbar; aber meine Vielzahl an diesen Erfahrungen und der Austausch mit anderen bestätigt immer wieder diesen Eindruck.

MS-bedingt die Bankgeheimzahl vergessen

Ganz groß, dick und lang war kürzlich der Schlauch, auf dem ich stand, vor einem Bankautomaten. Schon sehr, sehr lange habe ich das Konto und diese Nummer – aber plötzlich hatte ich nicht mal mehr den blassesten Schimmer, wie die vier Zahlen lauten. Natürlich war auch die Eselbrücke hinter der Wand verschwunden! Zum Glück war hinter mir keine Schlange und ich hatte Zeit zum Durchschnaufen und Überlegen.

Dann kamen die Zahlen wieder, aber bei der Reihenfolge war ich mir nicht mehr sicher... Naja, drei Versuche hat man, bevor eine Karte gesperrt wird, also: >tipp, tipp, tipp, tipp<; „Geben Sie den Betrag ein“. Juhu! „Bitte geben Sie Ihre Geheimzahl ein“ … was, nochmal? Das habe ich doch gerade getan ... naja, dann eben noch mal: „Falsche Nummer!“ Was, nee ... also hab` ich jetzt einmal richtig und einmal falsch; wohl weil ich mich beim zweiten Mal einfach vertippt habe – also kann ich ja noch mal, ohne dass die Karte gesperrt wird ... Oder habe ich da doch einen Zahlendreher drin und die Nummer lautet: >tipp, tipp, tipp, tipp> „Dreimal falsche Nummer ... Ihre Karte wurde aus Sicherheitsgründen gesperrt“. Was? NEIN!

Kaum zurück im Auto war die Nummer plötzlich wieder da: Ja, natürlich! Wie konnte ich die denn nur vergessen?! Die Karte entsperren lassen und am nächsten Tag wieder zur Bank. Denn jetzt erinnerte ich mich ja ganz, ganz sicher! Aber: „Falsche Nummer“. Wie bitte?! Abends kam sie dann plötzlich: Na klar, bin ich blöd!! Am dritten Tag dann endlich: „… Betrag wird ausgezahlt“. Meine Güte, mein Vertrauen in meine grauen Zellen ist komplett zerstört: Ich kann mich wohl gar nicht mehr auf mich verlassen!

Jetzt grüble ich, wie ich mir die Nummer denn ganz sicher merken kann: Ob wohl eine Eselsbrücke für die alte Eselsbrücke hilft, wenn ich sie mal wieder vergessen habe???

Aber wenn ich mich dann auch nicht mehr an diese erinnern kann, dann ...?! Meine Güte, was bin ich selbst manchmal für ein Esel, ein Grautier mit einer löchrigen, langen Leitung in den grauen Zellen.

Karikatur von MS-Betroffener Jennie

Inhaltlich geprüft: M-DE-00003220

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