MS-Betroffene, Lea, 24 Jahre
8 Minuten
Veröffentlicht am 19.01.2023
21. Juli 1999 und 28. Mai 2019: zwei Daten, die mein Opa und ich wohl niemals vergessen werden. An diesen Tagen haben wir jeweils die Diagnose Multiple Sklerose bekommen – an ersterem mein Opa, an dem zweiten ich. Der Weg dahin hat sich für jeden von uns aber ziemlich unterschiedlich gestaltet. Während ich nach einer Woche mit Beschwerden und einer weiteren halben Woche im Krankenhaus die Gewissheit hatte, musste mein Opa einen jahrelangen Ärztemarathon auf sich nehmen – 13 Jahre, um genau zu sein.
Die ersten Beschwerden bemerkte mein Opa bereits im Jahr 1986. Genau wie bei mir waren dies Sehstörungen – bei meinem Opa auf dem linken Auge, bei mir auf dem rechten. Zusammen mit meiner Oma lief er von einem Krankenhaus zum anderen, doch niemand konnte (oder wollte?) den beiden so richtig sagen, was los war. Der Begriff „Multiple Sklerose“ fand sich zwar von Anfang an in all seinen Arztbriefen, aussprechen wollte diesen Verdacht jedoch niemand. Selbst, als meine Oma die Ärzte darauf ansprach, taten diese das einfach ab: Das wäre es schon nicht, mein Opa würde nur zu viel arbeiten.
Hätte ihm jemand diesen Verdacht der MS bestätigt, hätte er vieles anders gemacht, erzählt er mir: „Ich hätte nicht mehr so viel gearbeitet und mich auch nicht selbstständig gemacht.“ In seiner Selbstständigkeit – einem Getränkelieferservice mit eigenem Verkaufsstandort – musste er schwere körperliche Arbeit verrichten. Wenn ihm einer der Ärzte von vornherein den Verdacht bestätigt hätte, hätte er besser auf seinen Körper geachtet. Doch niemand redete mit ihm auf seinem beschwerlichen Weg von Arzt zu Arzt über die mögliche Diagnose MS.
Nach 13 Jahren und insgesamt sieben Lumbalpunktionen (gegen weitere wehrte sich mein Opa irgendwann vehement) war am 21. Juli 1999 die Diagnose da: Multiple Sklerose – diese Krankheit, die schon immer im Raum stand, über die nur nie jemand reden wollte. Anders als mir war meinen Großeltern diese Krankheit bei der Diagnose kein Begriff. Nachdem die Beschwerden immer abgetan wurden, haben sie nicht mit einer unheilbaren Krankheit gerechnet. Von einem Neurologen haben sie schließlich ein Buch bekommen, in dem sie sich über die Multiple Sklerose informieren konnten, und auch eine MS-Schwester stand meinem Opa zur Seite. Als ich meinen Opa fragte, was ihm durch den Kopf gegangen ist, als er nach diesen 13 Jahren des Wartens und Bangens mit 58 Jahren endlich eine Diagnose hatte, antwortet er sehr schnell: „Dass ich irgendwann mal sterben muss, weiß ich – aber bis es soweit ist, möchte ich viele schöne Jahre haben.“
Und nach diesem Motto lebt mein Opa tatsächlich. Auch, als er relativ schnell nach der Diagnose erst auf den Rollator und nun seit mehreren Jahren auf den Rollstuhl angewiesen war, konnte ihn dieser Umstand nicht aus der Bahn werfen. Egal, was in seinem Leben los ist und welche Streiche ihm seine Gesundheit mal wieder spielt – meinen Opa wird man recht selten ohne gute Laune erleben. Für mich war er – schon vor meiner Diagnose – ein großes Vorbild. Aber vor allem, nachdem ich erfahren hatte, dass auch ich die MS in mir trage, hat er mir immer wieder gezeigt, wie gut man mit dieser Krankheit leben kann und dass man niemals aufgeben sollte:
Lass den Kopf nicht hängen, sonst kannst Du die Sonne nicht sehen
Ich habe es als großen Vorteil empfunden, dass mir die MS schon ein Begriff war, als ich selbst die Diagnose erhielt. Schließlich hat mein Opa mir und meinen Geschwistern schon immer erklärt, dass Multiple Sklerose die „Krankheit der 1000 Gesichter“ sei. So wusste ich direkt, dass die MS bei mir nicht so verlaufen muss wie bei meinem Opa oder bei anderen MS-Betroffenen, die ich kenne. Unbewusst hat mich mein Opa also schon immer gut auf die MS vorbereitet. Als er von meiner Diagnose erfahren hat, war sein erster Gedanke: „Jetzt musst Du das Gleiche durchmachen wie ich. Warum?“ Bis jetzt haben wir das alles aber sehr gut geschafft und das wird auch weiterhin der Fall sein. Und jedes Mal, wenn mir meine Großeltern von ihrer Odyssee bis zur MS-Diagnose erzählen, bin ich umso dankbarer, dass das alles bei mir besser lief – wie gesagt, ich habe nur eine halbe Woche gewartet. Mit meinen Großeltern habe ich immer Menschen, zu denen ich aufblicken kann: Meinen Opa bewundere ich sehr für seine Lebenseinstellung, von der ich mir öfter mal eine Scheibe abschneiden könnte, und meine Oma für ihr Durchhaltevermögen und die Liebe, mit der sie meinen Opa nun schon seit langer Zeit pflegt. Seinen Spruch für alle Lebenslagen, den er mich nach meiner Diagnose auch nicht selten hat hören lassen, fasst meiner Meinung nach das Leben mit MS schon gut zusammen: „Man muss sich selbst in den Arsch treten.“
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