Erfahrungsberichte

Berufseinstieg mit MS – sich selbst an oberste Stelle setzen

9 Minuten

Veröffentlicht am 15.09.2023  von  trotz ms Redaktion

Kurz vor dem Abschluss des Studiums, voller Pläne für das zukünftige Berufsleben, motiviert, sich ein eigenes Leben aufzubauen, und dann das: die Diagnose MS. In der wahrscheinlich spannendsten und wichtigsten Zeit meines Lebens musste ich mich auf einmal mit einer unheilbaren Krankheit beschäftigen: der Multiplen Sklerose. Wer freut sich nach zwölf Jahren Schule und einem anspruchsvollen Studium denn nicht auf den Übergang ins Arbeitsleben ─ darauf, sich selbst zu verwirklichen und endlich eigenes Geld zu verdienen. Den Berufseinstieg hat mir die Krankheit aber nicht gerade erleichtert.

Wie glücklich und stolz war ich, als ich trotz meiner MS mit einem schweren Verlauf mein Studium der Germanistik und allgemeinen Sprachwissenschaft abgeschlossen hatte ─ und dann auch noch eine Jobzusage bekommen habe. Lektorat oder Journalismus ─ das waren schon immer die zwei möglichen Wege für mich, die ich mir für mein Berufsleben vorstellen konnte. Mit der Zusage für ein Volontariat bei einer lokalen Tageszeitung ist es dann der Journalismus geworden. Beim Bewerbungsgespräch hatte ich direkt erwähnt, dass ich mit einer unheilbaren Krankheit lebe. „Danke, dass Sie so ehrlich zu uns sind“, war die Reaktion meiner zukünftigen Vorgesetzten. „Wegen sowas schließen wir niemanden aus.“ Ich muss zugeben, nach dem Satz war ich erst einmal skeptisch. „Kann ja jeder behaupten!“, dachte ich mir. Als dann die Zusage kam, wusste ich, dass sie es wirklich so gemeint hat.

Auf dem Boden der Tatsachen

Direkt im Anschluss ging es für mich also los mit dem Volontariat: Termine besuchen, schreiben, fotografieren, recherchieren, Interviews führen, Seiten layouten und Ideen für neue Geschichten sammeln. Schnell habe ich gemerkt: Das ist es! Das ist genau das, was ich mir für mein Berufsleben vorgestellt habe! Doch die Umstände des Jobs haben es mir nicht leicht gemacht. Stress ist Alltag in einer Redaktion. Überstunden sind gang und gäbe und auch Wochenendarbeit gehört zum Job dazu. An sich stört es mich nicht, am Wochenende zu arbeiten. Was mir zu schaffen macht, ist die fehlende Zeit für mich: Zehn Tage am Stück durcharbeiten ─ von morgens bis abends ─ schlaucht auch Menschen ohne chronische Krankheit schon genug. Aber mit der MS ging das Ganze einfach irgendwann gar nicht mehr für mich. Immer öfter wurde ich krank, ganz zu schweigen von den immer präsenter werdenden MS-Symptomen: Fatigue, schwache Beine und taube Hände sind für mich zum Alltag geworden.

Das böse Unterbewusstsein

Dabei will ich doch so viel leisten. Ich möchte mit meinen Kolleg:innen mithalten können, ich möchte nicht die sein, auf die man sich nicht verlassen kann, weil sie sowieso ständig krank und nicht belastbar ist. Doch anstatt direkt die Reißleine zu ziehen, stürzte ich mich noch mehr in die Arbeit: Mein Unterbewusstsein sagte mir, dass ich mindestens doppelt so viel leisten muss wie meine Kolleg:innen. Schließlich muss ich doch beweisen, dass mich meine Behinderung auch wirklich nicht beeinträchtigt bei der Arbeit ─ oder?

Nicht vergleichen

Im Endeffekt ist es leider so: Wenn Du Dich anstrengst und zeigst, dass Du viel schaffst und immer zu allem Ja sagst, dann ist es Deinen Kolleg:innen und Vorgesetzten egal, ob Du krank bist. Da wird die Arbeit einfach draufgeladen ─ schließlich wird sie auch erledigt und kein anderer muss sich darum kümmern. Und dabei will ich ihnen keinen Vorwurf machen, so funktioniert es nun mal im Berufsleben. Aber ich mache mir einen Vorwurf: dass ich nicht besser auf mich geachtet und nicht von Anfang an Grenzen gesetzt habe. Doch auch das muss man schließlich erst lernen, vor allem als Berufseinsteiger:in. Ich habe immer gedacht, dass das doch irgendwie gehen muss, schließlich bekommen es alle anderen doch auch hin. Dass ich mich aber nun mal nicht mit anderen Menschen ─ vor allem mit gesunden Menschen ─ vergleichen kann, ist ein Gedanke, der sich so banal anhört, den ich als Person mit einer unheilbaren Krankheit aber erst einmal verinnerlichen musste.

Lea B.

Neuer Lebensabschnitt

Also zog ich die Reißleine. Ich wurde mir klar darüber, dass ich meinen Job in der Lokalredaktion zwar wirklich sehr gerne mache, aber die Arbeitsumstände einfach nicht mit meiner Situation vereinbar sind. Das Ganze war ein Prozess ─ noch im Januar war ich so glücklich darüber, als mir mein Chef bestätigte, dass er mit meiner Arbeit sehr zufrieden ist und mich nach meinem Volontariat gerne fest anstellen würde. Bis vor Kurzem war es auch mein Plan, weiter in der Lokalredaktion zu arbeiten. Zwar wollte ich meine Stunden verkürzen, sonst sollte aber alles so bleiben wie gehabt ─ bis mich meine Schwester auf eine Stellenanzeige aufmerksam machte. „Pressestelle? Das ist doch gar nicht das, was ich gelernt habe!“, war mein erster Gedanke. Ich sprach mit meinem Freund und meiner Familie über das Thema und mir wurde klar, dass es so einfach nicht weitergehen kann. Ich habe keine Freizeit mehr, nach der Arbeit liege ich nur auf dem Sofa, um Kraft für den nächsten Tag zu sammeln. Das Wochenende nutze ich dazu, Dinge im Haushalt zu erledigen, die unter der Woche liegen geblieben sind, und mich kräftemäßig zu sammeln. Kurz gesagt: Die Erkenntnis, dass es so nicht weitergehen kann, kam und ich bewarb mich bei der anderen Stelle ─ und wurde angenommen. Im Oktober starte ich jetzt an einem neuen Arbeitsplatz mit nur noch der Hälfte der Stunden. Ich werde wieder Zeit haben, mich auf meine Gesundheit zu konzentrieren, etwas für mich zu tun und meine Freund:innen wiederzusehen ─ und ich bin so stolz auf mich, dass ich mich selbst und meine Gesundheit priorisiert habe und bin gespannt auf diesen neuen Lebensabschnitt.

Inhaltlich geprüft: M-DE-00018321

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