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Steffi H., MS-Betroffene, 51 Jahre

Erfahrungsberichte

Abschied nehmen (müssen)

14 Minuten

Veröffentlicht am 11.07.2019  von  Steffi H.

Nach dem Tod eines Angehörigen gibt es viel zu regeln. Auch MS-Patientin Steffi H. macht diese Erfahrung und fürchtet: Löst die Belastung einen Schub aus? Hier geht es zum Beitrag.

Abschied nehmen (müssen)

Jetzt sitze ich hier an meinem PC und stelle fest: Ich habe mir da ganz schön was eingebrockt. Ich habe doch tatsächlich selbst vorgeschlagen, einen Blog-Beitrag übers Abschiednehmen von einem geliebten Menschen zu schreiben. Plötzlich ist alles wieder präsent, was sich vor ziemlich genau einem Jahr in meinem Leben ereignet hat und woran ich noch immer (mehr oder weniger) zu knabbern habe.

Rückblick: Wie alles begann

Ein Tag im Februar letzten Jahres läutete eine Zeit ein, in der alles anders wurde. Ein Anruf, der mich im Auto (natürlich über Freisprechanlage) erreichte, als ich mit meiner Tochter gerade auf dem Weg zu einem entspannten Shopping-Nachmittag war. Ein Anruf, der so unglaublich viele Emotionen auf einmal ausgelöst hat, dass es mir im Nachhinein schwer fällt zu beschreiben, WAS da alles passiert ist.

Eine nette, mir unbekannte Frauenstimme fragte, ob sie jetzt mit der Tochter des Herrn H. verbunden sei. In dem Moment hatte ich das Gefühl, als ob mein Herz stehen bliebe, ich nicht mehr atmen könne und mein Kopf völlig leer sei. Ein bisschen fühlte es sich an wie im Film – man weiß genau, was auch immer jetzt kommt, es ist nichts Gutes.

Verdammt – lass es nicht das sein, was sich in meinem Hirn gerade nach vorne schiebt: Nach meinem zögerlichen, fragenden, vorsichtigen „Ja“ kam mit der Antwort von der anderen Seite ein unglaublich erleichtertes Aufatmen. Mein Papa (fast 80) war „nur“ gestürzt, sollte demnächst ins Krankenhaus, sei aber „irgendwie verwirrt“ und es wäre nicht von Nachteil, wenn sich mal jemand (also ich) kümmern würde.

Die Stressmaschinerie läuft an

An einen entspannten Shopping-Nachmittag war natürlich nicht mehr zu denken. Stattdessen arbeitete mein Hirn nun auf Hochtouren, um einen Plan zu entwickeln, was jetzt alles getan werden müsste.

Zwischendrin schob sich auch immer wieder eine warnende Stimme ganz nach vorne, die mich daran erinnerte, dass es für mich und meine MS nicht gut sein konnte. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich einen Krankheitsschub provozieren würde, weil ich zu viel Stress hatte. Andererseits war das jetzt gerade sowas von zweitrangig – mein Papa brauchte Hilfe!

Meine Mission: Ordnung ins Chaos bringen

Die Sache mit dem Plan in meinem Kopf war recht schnell abgehakt. In dem Wissen, dass jetzt die Zeit da war, in der ich bewusst an und über meine Grenzen gehen müsse. Dank meiner Gabe, die Dinge ordnen zu wollen und zu können, stürzte ich mich mitten rein in das, was da kommen sollte.

Zuerst einmal den Papierkram vorbereiten. Denn weder ich noch meine Schwester hatten von unserem Vater eine Ansage dazu erhalten, was im „Falle eines Falles“ seine Wünsche waren, geschweige denn etwas Schriftliches. Also wäre es wohl spätestens jetzt an der Zeit, mit ihm darüber zu reden und entsprechende Vorkehrungen zu treffen. Dann dafür sorgen, dass meine Familie hier gut versorgt und aufgehoben ist – einen Plan machen, wann, wie, wohin zuerst und was wann, wie, wo zu erledigen ist.

Meine Planung war gut, ich konnte alles so umsetzen, wie ich das wollte und kam im Krankenhaus bei meinem Vater inklusive einer Tasche mit allem Notwendigen, einem wunderschönen Blumenstrauß, bissel Süßkram und Getränken an.

Da lag er nun, der Mann, dem ich meine Existenz zu 50 Prozent zu verdanken hatte: klein, irgendwie total fremd (man hatte ihm seinen Vollbart abrasieren müssen) und so hilflos. Er schlief die ganze Zeit, schnaufte vor sich hin und außer, dass ich einfach mit ihm sprach, ohne eine Antwort zu erhalten oder zu erwarten, war da nix.

Doch, da war was – das Gefühl, bisher alles, was in meiner Macht stand getan zu haben. Und so hielt ich seine Hand und versprach ich ihm, dass ich auch weiter alles tun würde, um ihm nach dem Krankenhaus ein Leben zu ermöglichen, was ihm gerecht werden würde.

Was ich unter diesen Umständen total vergessen hatte, waren die vorbereiteten Papiere in meiner Tasche. Es würde mir nichts anderes übrigbleiben, als von nun an in mich hineinzuhören und alles zu tun, um in seinem Sinne Entscheidungen zu treffen. Mein Papa war ein sehr freiheitsliebender Mensch mit einem unglaublichen künstlerischen Talent und einem angeborenen grünen Daumen (eigentlich war der ganze Mann DER grüne Daumen).

Bei meinem kurzen „Boxenstopp“ bei ihm zu Hause hatte ich mich davon überzeugen müssen, dass er alleine nicht mehr zurecht kam und schon gar nicht mehr kommen würde, wenn er aus dem Krankenhaus entlassen werden würde. Die einfachste Lösung wäre ein Heim, aber das wäre definitiv sein Todesurteil. Also dachte ich an die abgeschwächte Form – ambulant betreutes Wohnen zu Hause. Wie das geht, wusste ich ja, weil ich seit Jahren in diesem Metier arbeitete. Auch hierfür hatte ich schon begonnen, Pläne zu schmieden. Und auf dem Weg nach Hause hatte ich ja auf der Autobahn genügend Zeit, um weiter darüber nachzudenken.

Steffis Vater

Ich kam nach Hause mit dem Gefühl, alles richtig gemacht zu haben und mit dem Wissen, dass meine Arbeit jetzt erst richtig losgehen würde.

Löst die schwierige Situation einen MS-Schub aus?

Das Telefon klingelte in dem Moment, als ich mich gerade frisch geduscht mit einer Flasche Bier auf meiner Couch eingekuschelt hatte: „Frau H. hier ist Schwester S. aus dem Krankenhaus – Ihr Vater ist vor zehn Minuten eingeschlafen.“

Stille

So eine Nachricht haut jeden Menschen um – jeden anders. Blöderweise hab ich ja auch noch meine ständige Begleiterin mit an Bord und hatte keine Ahnung, wie die MS auf all das reagieren würde.

Jetzt, mit einem Jahr Abstand betrachtet, kann ich feststellen, dass ich trotz allem relativ gut durch diese Zeit gekommen bin.

Ich habe mich auf die Lösung fokussiert

Was mir sicherlich geholfen hat, war meine innere Einstellung schon zu Beginn der „Tragödie“. Ich habe mich nicht auf das eigentliche Problem fokussiert, sondern auf die realisierbaren Lösungsmöglichkeiten.

Natürlich hätte es mir den Boden unter den Füßen weggezogen, wenn ich von Beginn an gewusst hätte, WAS da gerade passiert. Aber indem ich immer nur darauf geschaut habe, was als nächstes zu tun ist, war ich in der Lage, überhaupt etwas zu tun. Aus dem Ganzen habe ich Folgendes gelernt (die ja ähnlich in unzähligen Ratgebern schon stehen):

  • Stell Dir das Schlimmste vor, was passieren kann (und freue Dich, wenn es dann doch nicht eintritt).
  • Schaue nicht auf das Problem, sondern lege Deinen Fokus auf die möglichen Lösungen – das gibt Dir Kraft.
  • Du musst nicht alles allein machen. Wenn es irgendwie geht, suche Dir Hilfe und Unterstützung: Gib ab, delegiere, übertrage Aufgaben an andere.

Ich habe es damals geschafft, meinem Papa ein Begräbnis zu organisieren, das ihm sicherlich gerecht geworden ist und das ihm auch sicherlich gefallen hätte. Er ist in einem Ruhewald bestattet worden – in seiner geliebten Natur, im Grünen.

Wald

Immer wenn ich seitdem einen Baum sehe (ja, es gibt viele Bäume, aber ich meine diese besonders schönen Bäume, die einen zum Innehalten bringen), denke ich an meinen Vater. Das ist schön, denn ich denke sehr oft an ihn, aber nicht mehr mit der übermächtigen Trauer von damals, sondern mit einer beständigen Liebe. So ist die Aussage „wer im Herzen weiterlebt, stirbt niemals“ für mich auf sehr eindrucksvolle Weise Realität geworden. Ich habe mir und meiner Schwester übrigens noch etwas ganz Verrücktes gegönnt:

Aus einer Haarsträhne meines Vaters haben wir beide jetzt einen Talisman in Form eines Handschmeichlers zu Hause. Ich nehme den oft in die Hand. Dann bin ich meinem Vater noch näher und genieße das Wissen, wie viel Kraft ich trotz MS habe.

Bis zum nächsten Mal.

Herzliche Grüße

Eure Steffi

Inhaltlich geprüft: M-DE-00003220

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