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Bewegung & Kognition

Nachgefragt: MS und Qigong – ein Experte im Interview

8 Minuten

Veröffentlicht am 15.09.2017  von  trotz ms Redaktion

Die chinesische Atem-, Bewegungs- und Mediationsform Qigong kann das Wohlbefinden von Gesunden und MS-Betroffenen fördern. Sie eignet sich auch für Menschen mit Einschränkungen. Bestes Beispiel dafür ist Martin Prüm. Der zertifizierte Qigong-Lehrer ist selbst auf einen Rollstuhl angewiesen und von der Wirkung des Qigong überzeugt. Im Folgenden beantwortet er die wichtigsten Fragen zu der fernöstlichen Bewegungslehre.

Ostasiatische Kulturen faszinieren Martin Prüm schon in jungen Jahren. Bereits mit zehn Jahren praktiziert er Qigong und Tai-Chi angeleitet von Lehrfilmen und Büchern. 2009 startet er seine Ausbildung zum Qigong-Kursleiter und beendet sie vier Jahre später erfolgreich.

Mittlerweile gibt Martin Prüm seit fünfeinhalb Jahren Qigong-Unterricht und leitet einen Qigong-Schnupperkurs im Freizeitprogramm einer Reha-Klinik. Er ist auch Initiator des kostenlosen Angebotes “Qigong im Sommer”, das im Palmenhausgarten in Konstanz stattfindet.

Herr Prüm, Sie sind ausgebildeter Qigong-Lehrer. Was ist Qigong eigentlich und woher kommt es?

Qigong bedeutet frei übersetzt „Kultivierung der Lebensenergie“. Es kommt aus China, genauer gesagt aus dem Daoismus und hat eine Geschichte, die weit vor die Geburt Christi zurückreicht. Der Begriff der Lebensenergie (Qi) dürfte vielen Menschen aus der Traditionellen chinesischen Medizin ein Begriff sein.

Demnach besitzt alles, was lebt Qi, ist also zu vitalen Prozessen fähig. Die Chinesen sind seit frühester Zeit stark auf Balance und Harmonie bedacht. Das Qigong ist somit wiederum ein Teil der Lebenspflege. Sein Ziel ist es, durch präzise eigenverantwortliche Arbeit an der Gesundheit möglichst lange und gesund zu leben.

Qigong beinhaltet langsam fließende Bewegungen, die konzentriert ausgeführt werden, aber auch Übungen der Selbstmassage entlang der Energiebahnen und der Meditation in Stille. Qigong ist heute eine der Säulen der Traditionellen chinesischen Medizin.

Was ist der Unterschied zu Yoga oder Tai-Chi?

Der Unterschied zwischen Qigong und Tai-Chi ist klein. Während beim Qigong die Übungen eher im statischen Stand ausgeübt werden, ist Tai-Chi so aufgebaut, dass komplexe Schrittfolgen mit Armbewegungen und Körperdrehungen dazu gehören, gleichzeitig aber die langsam ausgeführten Bewegungen wie Qigong wirken. Tai-Chi-Quan, wie es ausgeschrieben heißt, bedeutet „Faust der höchsten Harmonie“. Ursprünglich ist es ein Kampfstil des Kung-Fu, der sich unmittelbar aus dem Qigong heraus entwickelt hat. Die Bewegungen stellen Kampftechniken gegen einen imaginären Gegner dar. Tai-Chi als Verteidigungskunst steht heutzutage nur noch selten im Fokus Geblieben sind die wohltuenden geschmeidigen Bewegungen, die aber auch Waffen wie Schwert und Säbel beinhalten können. Tai-Chi ist wegen seines kämpferischen Ursprungs allerdings deutlich komplizierter als Qigong.

Yoga ist in Indien ursprünglich aus dem Hinduismus entstanden. Ziel war es Erleuchtung zu erreichen und den Körper hinter sich zu lassen. Im Mittelalter entwickelten sich komplexere akrobatische Positionen, die den Körper für die langen Meditationen geschmeidig halten sollten. Seit etwa hundert Jahren liegt der Fokus mehr und mehr auf der Verbesserung der Gesundheit. Die Bewegungen des Qigong sind eher fließend, weniger anspruchsvoll und statisch als Yoga. Wobei es auch Qigong-Übungen gibt, die statisch sind und Yoga-Haltungen sehr stark ähneln. Gerade für MS-Betroffene eignen sich Qigong-Übungen aus meiner Sicht besonders, weil sich 90 Prozent der Übungen beispielsweise leicht auf eine sitzende Position abwandeln lassen.

Was kann Qigong bewirken?

Meine Teilnehmer berichten von einer verbesserten Durchblutung des Körpers bis hinunter zu den Beinen (auch in sitzender Position), einer gelösten Muskulatur und verbesserter Schlafqualität. Darüber hinaus kann sich die Körperwahrnehmung verändern und die Konzentrationsfähigkeit als auch die Koordination verbessern. Auch die Fatigue verkürzt sich zum Teil. Mir ist aufgefallen, dass MS-Teilnehmer, die schon viele Jahre Qigong praktizieren, erstaunlich gut zu Fuß sind.

Gibt es verschiedene Formen von Qigong? Welche Variante unterrichten Sie?

Es gibt bis zu hundert verschiedene Übungsformen mit hunderten Bewegungen. Niemand beherrscht alles. Die Geschichte des Qigong ist dafür viel zu alt und weit verzweigt. Man kann grob gesagt daoistisches Qigong, buddhistisches Qigong und medizinisches Qigong unterscheiden. Alte Formen kommen größtenteils aus vielen verschiedenen alten daoistischen Traditionslinien oder aus buddhistischen Klöstern. Diese sind meist auf verschiedene Berge Chinas verteilt.

In den letzten 40 Jahren entstanden aber immer wieder komplett neue Qigong-Formen. Sie haben häufig eine weniger intensive philosophische Anbindung. Erschaffen wurden sie von verschiedenen chinesischen Professoren an dortigen Hochschulen. Daneben handelt es sich um alte Formen, die neu vereinheitlicht worden sind. Meine Ausbildung nach den Richtlinien des deutschen Qigong Dachverbandes ist so aufgebaut, dass den angehenden Kursleitern sowohl einzelne Formen, die ihren Weg nach Europa gefunden haben, als auch neue Formen gelehrt werden. Das vermittelte Wissen kann aber sehr wohl aus einzelnen alten Traditionen stammen. Eine Auflistung, der einzelnen Qigong-Formen, die ich beherrsche, findet man auf meiner Homepage.

Können auch Menschen mit Einschränkungen Qigong ausüben? Gibt es dabei, etwas zu beachten?

Ja, das geht sehr gut. Menschen mit Einschränkungen sollten sich nicht überanstrengen. Das wichtigste Element ist die Vorstellung im Geiste, die die Bewegung begleitet. Sollte eine Bewegung gar nicht gehen, stellt man sich bildlich vor, man führe sie bereits korrekt aus. Unbewegte Qigong-Übungen sind auch Bestandteil meines Unterrichts. Das sogenannte stille Qigong könnte auch von Bettlägerigen ausgeübt werden.

Ich unterrichte allerdings auch nichtbehinderte Menschen im klassischen Qigong. Das Zusammenführen behinderter und nichtbehinderte Menschen ist mir eine Herzensangelegenheit.

Inhaltlich geprüft: M-DE-00003220

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